Im September und Oktober berichteten wir über den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 (1 ABR 22/22) bezüglich der Pflicht der Arbeitgeber zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems. Die nun veröffentlichten Entscheidungsgründe enthalten insbesondere folgende wichtigen Feststellungen des BAG:
Laut BAG ist jeder Arbeitgeber nach geltendem Gesetz schon jetzt zur Vollerfassung der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer verpflichtet. Eine Gesetzesänderung zur Arbeitszeiterfassung darf nicht abgewartet werden.
Rechtsgrundlage für die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Bei der unionskonform vorzunehmenden Auslegung ist insbesondere auch die sog. Stechuhrentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 (C-55/ ̶ CCOO) zu berücksichtigen. Darin entschied der EuGH, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete täglichen Arbeitszeiten gemessen werden können. Dies ist erforderlich, um die Einhaltung und (auch behördliche) Kontrolle der unionsrechtlich zulässigen Arbeitszeit und der Ruhezeit zu gewährleisten.
Erfasst von der Erfassungspflicht sind nach BAG alle Arbeitgeber (auch Kleinbetriebe). Sie alle müssen ein entsprechendes Arbeitszeiterfassungssystem einführen und verwenden.
Die Erfassungspflicht geht über die Pflicht gem. § 16 Abs. 2 ArbZG zur Erfassung von über 8 Stunden täglich geleisteter Arbeit hinaus. Zu erfassen sind Beginn, Ende und Lage der täglichen Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer, einschließlich Überstunden und wohl auch Pausenzeiten. Für die Erfüllung der Erfassungspflicht genügt es somit nicht, wenn lediglich pauschal eine Summe der täglichen Arbeitszeiten und ein pauschaler Pausenabzug aufgeschrieben wird.
Die Erfassungspflicht gilt jedenfalls für alle ArbeitnehmerS.v. § 5 Abs. 1 BetrVG. Offen gelassen wurde, ob eine Ausnahme für die in § 18 Abs. 1 ArbZG genannte Personengruppe (Prokuristen und sonstige tatsächlich leitende Angestellte, Chefärzte, Leiter öffentlicher Dienststellen, Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft mit den ihnen anvertrauten Personen, bestimmte kirchliche Arbeitnehmer) gilt. Letzteres kann aber evtl. vertretbar sein.
Welche Form das Arbeitszeiterfassungssystem haben muss, ist ebenfalls offen, solange und soweit keine weiteren gesetzlichen Einschränkungen existieren. Bei der Auswahl sind die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens, insbesondere dessen Größe, zu berücksichtigen. Das System muss jedenfalls objektiv, verlässlich und zugänglich sein. Die Arbeitszeit kann also z.B. digital, per App oder auf handgeschriebenen Stundenzetteln erfasst werden und dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden.
In Betrieben mit Betriebsrat kann dieser die Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems nicht blockieren. Es besteht aber ein Mitbestimmungsrecht zu den Modalitäten.
Der Arbeitgeber darf sich nicht darauf beschränken, ein Arbeitszeiterfassungssystem einfach nur zur freiwilligen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Vielmehr muss er das System auch tatsächlich verwenden. Das heißt, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer möglichst nachweisbar über die einzuhaltenden arbeitszeitrechtlichen Vorgaben informieren und instruieren muss sowie dass er die Arbeitnehmer verpflichten muss, das System ordnungsgemäß zu nutzen. Zudem muss der Arbeitgeber die Einhaltung der Vorgaben kontrollieren.
Eine Delegation der Arbeitszeiterfassung auf Arbeitnehmer ist unionsrechtlich nicht ausgeschlossen. Eine Vertrauensarbeitszeit, bei welcher der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit im Rahmen der rechtlichen Vorgaben eigenverantwortlich einteilt und erfasst, ist weiterhin möglich. Allerdings muss auch hier die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben kontrolliert werden.
Die Arbeitszeiterfassung hat zur Folge, dass die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben (insbesondere höchstzulässige Arbeitszeit sowie Einhaltung der Ruhezeiten) auch durch die Behörden leichter kontrollierbar ist. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Vollerfassung führt zwar nicht unmittelbar zu einem Bußgeld. Jedoch kann die Aufsichtsbehörde bestimmte Anordnungen erlassen und erneute Verstöße sanktionieren.
Es bleibt abzuwarten, ob die Aufsichtsbehörden verstärkte Kontrollen und Anordnungen vornehmen und ob bzw. vor allem wie der Gesetzgeber die Arbeitszeiterfassungspflicht näher regelt. In jedem Fall müssen sich die Unternehmen näher damit auseinandersetzen, was als Arbeitszeit gilt, sowie was erlaubt ist und was nicht (vgl. unsere Sonderinformation vom 10. Oktober 2022). Andernfalls besteht das erhebliche Risiko von Bußgeldern oder gar strafrechtlicher Verfolgung, falls ohne Beachtung der Grenzen des Arbeitszeitgesetzes etwaige Verstöße nunmehr aufgrund der Arbeitszeiterfassungspflicht dokumentiert werden. In einem ersten Schritt sollten also die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes, insbesondere bei Sonderfragen wie Fahrtzeiten, tägliche Ruhezeiten und Möglichkeiten des Zeitausgleiches, geprüft werden. In einem zweiten Schritt wären dann entsprechende Umsetzungsmaßnahmen zur Einhaltung der Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu treffen, damit die Dokumentation dann auch vorgenommen werden kann.
Es ist aufgrund der sofortigen Wirkung des Beschlusses des BAG dringender Handlungsbedarf gegeben. Gerne stehen wir Ihnen bei der Umsetzung einer für Ihr Unternehmen möglichst optimalen Nutzung der Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zur Verfügung.
Ihre Ansprechpartner
Dr. Andreas Katzer| Partner, Rechtsanwalt
Martin Jost | Senior Manager, Rechtsanwalt
Die Sonderinformation als PDF-Datei finden Sie im Nachgang verlinkt