Wenn Mitarbeiter eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, um nicht zur Arbeit erscheinen zu müssen, ist das für Arbeitgeber nicht nur ärgerlich, sondern infolge des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch teuer. Wird die vermeintliche Arbeitsunfähigkeit durch eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) „belegt“, mussten Mitarbeiter bislang kaum arbeitsrechtliche Sanktionen fürchten. Mit der AUB war das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit faktisch bewiesen. Zweifel des Arbeitgebers an der Richtigkeit und dem Beweiswert der ausgestellten AUB fanden vor den Arbeitsgerichten bislang nur selten Gehör.
Seit dem 1. Januar 2023 können Arbeitgeber Arbeitsunfähigkeiten auf elektronischem Wege direkt bei den Krankenkassen ihrer Beschäftigten abrufen, sobald sich diese krankgemeldet haben. Nicht alle Arbeitgeber unterstützen den elektronischen Abruf. Daher kommt es auch weiterhin zu AUB in Papierform. Zudem können sich Mitarbeiter seit dem 7. Dezember 2023 wieder per Telefon von ihrem Arzt bis zu fünf Tage krankschreiben lassen, sofern sie keine schweren Symptome aufweisen.
Die Arbeitsgerichte blicken nun kritischer auf die AUB und gehen vermehrt Zweifeln an deren Beweiswirkung nach. Gerade die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Beweiswert der AUB zeigt, dass sich ein überlegtes Handeln der Arbeitgeber hier (finanziell) lohnen kann.
I. Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Im Grundsatz kommt einer vom Arzt festgestellten Arbeitsunfähigkeit und ausgestellten AUB ein hoher Beweiswert zu. Der Mitarbeiter erbringt hiermit in der Regel den Nachweis, dass er wegen Krankheit nicht in der Lage ist, seine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die ärztlich ausgestellte AUB ist aber nicht über jeden Zweifel erhaben. Der Beweiswert der AUB kann durch verschiedene Umstände erschüttert und so das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit in Zweifel gezogen werden.
II. Fälle in denen der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arbeitgeber angezweifelt werden kann
Es gibt mehrere Anknüpfungspunkte, die den Beweiswert einer AUB nachhaltig erschüttern können.
1. Regelbeispiele des § 275 Abs. 1a SGB V
Berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können vorliegen, wenn der Mitarbeiter auffällig häufig oder nur für kurze Zeit arbeitsunfähig ist oder wenn der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf den Anfang oder das Ende einer Arbeitswoche fällt. Zweifel können sich zudem daraus ergeben, dass die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt festgestellt wird, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten AUB auffällig geworden ist. Da seit der Umstellung auf die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum 01. Januar 2023 der elektronische Auszug nicht mehr den behandelnden Arzt ausweist, ist letzteres allerdings kaum noch praxistauglich. Zudem wird für eine Erschütterung des Beweiswerts der AUB in den genannten Fällen verlangt, dass der Arbeitgeber eine Untersuchung des Mitarbeiters durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen beantragt.
2. Entscheidungen der Arbeitsgerichte für bestimmte Fallkonstellationen
In der Rechtsprechung wurden bereits verschiedene Konstellationen diskutiert, die Indizien für die Erschütterung der ausgestellten AUB sein können:
> Wenn der Mitarbeiter im Zusammenhang mit der Nichtgewährung von Urlaub seine Krankheit dem Arbeitgeber gegenüber ankündigt und ein verständiger Dritter dies nur als deutlichen Hinweis verstehen kann, dass der Mitarbeiter im Falle der Nichtgewährung von Urlaub eine AUB einreichen wird (BAG, Urteil vom 17.06.2003, 2 AZR 123/02).
> Wenn der Mitarbeiter während seiner Arbeitsunfähigkeit eine vergleichbare Arbeit für andere Arbeitgeber (BAG, Urteil vom 26.08.1993 – 2 AZR 154/93) oder in seinem privaten Umfeld verrichtet (LAG Köln, Urteil vom 09.10.1998 – 11 Sa 400/98).
> Wenn ein Mitarbeiter ab dem Tag seiner Eigenkündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben ist und die AUB „passgenau“ die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
> Wenn der Mitarbeiter sich im Falle des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend – „postwendend“ – krankmeldet bzw. eine AUB einreicht. Das gilt insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist – auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – abgedeckt wird (BAG, Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23).
> Bei befristeten Arbeitsverhältnissen, wenn sich die Arbeitsunfähigkeit durchgängig (nahezu) genau über die letzten sechs Wochen vor dem vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses erstreckt (LAG Niedersachsen, Urteil vom 22.02.2023 – 8 Sa 713/22).
Da es sich hier lediglich um Indizien handelt, bedarf es auch in vergleichbaren Fällen immer einer Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls.
3. Formale Anforderungen an die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Die AUB muss zudem ordnungsgemäß, das heißt nach Maßgabe der sog. Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie („AU-RL“), ausgestellt werden. Verstöße des ausstellenden Arztes gegen die Regelungen der §§ 4, 5 AU-RL führen dazu, dass der Beweiswert der AUB erschüttert ist (BAG, Urteil vom 28.06.2023 – 5 AZR 335/22).
So liegt etwa dann keine formell ordnungsgemäße AUB vor, wenn der Beginn der Arbeitsunfähigkeit um mehr als drei Tage zurückdatiert ist, die AUB über einen längeren Zeitraum als zwei Wochen oder ohne vorherige ärztliche Untersuchung ausgestellt wurde. Eine Ausnahme hiervon bildet die seit dem 07. Dezember 2023 dauerhaft eingeführte Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung und die nach einer sog. Videosprechstunde ausgestellte AUB.
III. Folgen einer erschütterten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Sofern die AUB erschüttert ist, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung vorerst zurückhalten. Es liegt dann wieder beim Mitarbeiter, darzulegen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war, um eine Entgeltfortzahlung zu erhalten. Hierfür muss er etwa seine Krankheitsumstände näher erläutern, ärztliche Befundberichte vorlegen oder die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden (BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21). Wichtig ist, dass der Arbeitgeber die Auffälligkeiten und Indizien, die den Beweiswert der AUB erschüttern, vollständig und beweissicher dokumentiert.
Stellt sich heraus, dass der Mitarbeiter tatsächlich nicht arbeitsunfähig krank war, kommen als weitere Sanktionsmöglichkeiten eine Abmahnung oder ordentliche Kündigung in Betracht. Im Falle einer Verdachtskündigung muss der Mitarbeiter vor Ausspruch der Kündigung zum Verdacht der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit angehört werden.
Bei bewusst vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit ist zudem eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses denkbar (BAG, Urteil vom 25.01.2018 – 2 AZR 382/17). In diesen Fällen muss jedoch stets die zweiwöchige Frist zur Kündigung, die sogenannte Ausschlussfrist, im Blick behalten werden.
IV. Fazit
Die Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswerts einer AUB bleiben für Arbeitgeber weiterhin hoch. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es nicht unmöglich ist, den Beweiswert einer AUB zu erschüttern. Ob berechtigte Zweifel an der ausgestellten AUB vorliegen und welche rechtlichen Maßnahmen zu ergreifen sind, bleibt einzelfallabhängig, ist stets genau zu prüfen und im Vorfeld zu beraten.
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Dr. Daniel Holler | Rechtsanwalt
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