Pünktlich mit Blick auf das Ende des Jahres 2022 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein weiteres Mal eine Grundsatzentscheidung auf dem Gebiet des Urlaubsrechts getroffen (Az. C-120/21 LB). Im Kern seiner Entscheidung stellte der EuGH fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für ein bestimmtes Kalenderjahr erworben hat, nicht verjährt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auch tatsächlich wahrzunehmen.
Aufgrund der Brisanz des Themas – insbesondere zum nahenden Jahresende – nehmen wir das Urteil des EuGH zum Anlass, Sie auf die in diesem Zusammenhang konkret bestehenden arbeitgeberseitigen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten hinzuweisen. Denn eine Missachtung dieser Obliegenheiten führt zu der Konsequenz: Arbeitnehmer können Urlaubstage über Jahre hinweg „anhäufen“ und sich noch Jahre später darauf berufen. Dies gilt es aus Arbeitgebersicht zu vermeiden.
- Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des Arbeitgebers
Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) gibt eindeutig vor: Der Jahresurlaub muss im laufenden Kalenderjahr genommen werden, ansonsten verfällt er (§ 7 Abs. 3 BUrlG). Eine Übertragung von Urlaubsansprüchen auf das nächste Kalenderjahr ist gesetzlich nur im Ausnahmefall vorgesehen, wenn dringende persönliche oder dringende betriebliche Gründe dies rechtfertigen. Beispielhaft zu nennen sind Arbeitsunfähigkeit als persönlicher und termingebundene Aufträge als betrieblicher Rechtfertigungsgrund.
Wird der Urlaub auf das nächste Jahr übertragen, muss er in den ersten drei Monaten, also bis zum 31. März, genommen werden (vgl. § 7 Abs. 3 S. 2 BurlG). Mit Ablauf des 31. März des folgenden Kalenderjahrs verfallen damit sämtliche Urlaubsansprüche im Grundsatz restlos.
Nach ständiger Rechtsprechung aus den letzten Jahren gilt dieser Grundsatz des Urlaubsverfalls jedoch nur dann, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nachgekommen ist:
-Der Verfall des Urlaubsanspruchs setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer – gegeben falls förmlich – rechtzeitig dazu auffordert, seinen Urlaub zu nehmen. Erforderlich ist zudem die klare Mitteilung, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs verfällt, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht beantragt und nimmt (vgl. BAG, Urteil vom 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16).
-Es ist darauf zu achten, jedem Arbeitnehmer diese Information zu erteilen. Die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers bestehen selbst dann, wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist (BAG, Urteil 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19).
-Weil der Arbeitgeber im Streitfall die Darlegungs- und Beweislast trägt, sollte die Erfüllung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nachweisbar und dokumentiert sein.
Hat der Arbeitgeber seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht erfüllt, ist der Urlaubsanspruch nach den dargestellten Grundsätzen nicht an das Urlaubsjahr gebunden. In diesem Fall tritt der Urlaubsanspruch des abgelaufenen Urlaubsjahrs zum Urlaubsanspruch aus dem nachfolgenden Urlaubsjahr hinzu.
- Sonderfall: Urlaubsverfall bei langandauernder Krankheit
Kann der Arbeitnehmer seinen Urlaub bis Ende des Jahres oder des Übertragungszeitraums rein tatsächlich nicht nehmen, weil er erkrankt ist, bleibt der Urlaubsanspruch zunächst erhalten.
Weil sich hierdurch jährlich erworbenen Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern, die über mehrere Jahre arbeitsunfähig erkrankt sind, allerdings ins Unermessliche addieren würden, verfällt nach ständiger Rechtsprechung der gesetzliche Urlaubsanspruch jedoch spätestens 15 Monate nach Ablauf des entsprechenden Urlaubsjahrs.
Beispiel: Der Urlaubsanspruch eines seit dem Jahr 2021 dauerhaft arbeitsunfähigen Arbeitnehmers verfällt hiernach jedenfalls zum 31. März 2023.
Noch ungeklärt ist, wie sich die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des Arbeitgebers zur 15-monatigen Verfallfrist bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit verhält. Fraglich ist, ob der Urlaubsanspruch bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers auch dann 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Wir raten daher dringend dazu, auch langzeiterkrankte Arbeitnehmer schriftlich zu den aktuell noch bestehenden Urlaubsansprüchen zu informieren und auf den drohenden Verfall der Ansprüche hinzuweisen.
- Differenzierung zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und vertraglichem Mehrurlaub
Neben der Einhaltung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten sind Arbeitgeber in diesem Zusammenhang gut beraten, bereits bei der Arbeitsvertragsgestaltung das Thema des Erholungsurlaubs umfassend zu regeln.
Denn die strengen Maßgaben der hier dargestellten Rechtsprechungen erfassen im Grundsatz nur den gesetzlichen Mindesturlaub, der bei einer regelmäßigen 5-Tage-Woche zu einem Mindesturlaubsanspruch von 20 Urlaubstagen im Kalenderjahr führt.
Sehen Arbeitsverträge – wie regelmäßig – einen darüberhinausgehenden vertraglichen Mehrurlaub vor, ist eine ausdrückliche Differenzierung zwischen gesetzlichem und vertraglichem Urlaubsanspruch dringend geboten. Andernfalls „verschmelzen“ der gesetzliche und der vertragliche Urlaubsanspruch zu Gunsten des Arbeitnehmers zu einem einheitlichen Urlaubsanspruch. In der Konsequenz fänden die strengen Grundsätze der Rechtsprechung, die den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch schützen, auch für den vom Arbeitgeber freiwillig gewährten Mehrurlaub Anwendung.
Gerne stehen wir Ihnen bei Fragen zu den arbeitgeberseitigen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten oder vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung.
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Ihre Ansprechpartner
Dr. Viktor Stepien | Senior Manager, Rechtsanwalt
Gabriele Falch | Senior Managerin, Rechtsanwältin
Franziska Riegler |Rechtsanwältin
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Urlaubsverfall – Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit des Arbeitgebers